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Der Nahostkonflikt und die Suche nach Orientierung

13.12.2023
Monika Waldis leitet das Zentrum für Politische Bildung und Geschichtsdidaktik an der Pädagogischen Hochschule FHNW. Im Interview spricht sie über den Nahostkonflikt und worauf im Unterricht und auf dem Pausenhof geachtet werden muss.
Monika Waldis Porträtbild
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«Die Schulen sind gefordert, klare Grenzen zu setzen», so Monika Waldis

Basler Schulblatt: Die aktuellen Ereignisse zwischen Israel und Gaza prägen derzeit die Weltpolitik und dominieren die Berichterstattung. Wie informieren Sie sich über den Nahostkonflikt, und was fällt Ihnen auf?

Monika Waldis: Ich informiere mich via SRF-News-App, lese verschiedene Tageszeitungen und verfolge Expertendiskussionen online. Mein Zeitbudget ist nicht allzu gross, ich muss selektieren. Insgesamt fällt mir auf, wie viel kommuniziert wird, auch wenn die Einordnung einzelner Geschehnisse nicht einfach ist und sich manche Zusammenhänge erst aus Distanz herauskristallisieren werden. Zudem werden Bilder, manchmal sogar Bildstrecken publiziert, die aufrüttelnd, beinahe verstörend sind. Die Grenzen des Zeigbaren haben sich verschoben, auch in den traditionellen Medien.

Sind die Lehrpersonen in der Pflicht, das Thema aufzugreifen?

Eine Verpflichtung gibt es nicht. An erster Stelle stehen die Schülerinnen und Schüler. Wenn Lehrpersonen merken, dass Fragen da sind, dass sich Schülerinnen und Schüler mit dem Nahostkonflikt beschäftigen und ein Gegenüber benötigen oder auch mit Gewalt und Extremismus zu sympathisieren beginnen, dann sollten sie das Thema aufgreifen. Wir dürfen als Gesellschaft nicht wegschauen. Lehrpersonen sind hier in ihrer Rolle als Erzieherinnen und Erzieher sowie als Vertrauenspersonen gefordert.  

Haben die persönlichen Gefühle einer Lehrperson im Unterricht Platz?

Mit Schülerinnen und Schüler in eine Interaktion zu treten, wenn man selbst noch stark mit Gefühlen beschäftigt ist und nach Orientierung ringt, ist schwierig. Lehrpersonen müssen sich selbst fragen: Bin ich genug gefestigt und stark, dass ich über das schwere Thema sprechen kann, ohne dass ich die Schülerinnen und Schüler mit meinen eigenen Sorgen oder meinem Schmerz überwältige? Kann ich eine reflektierte Distanz einnehmen, die es mir erlaubt, auf die Lernenden einzugehen?

Wie merkt man, ob Schülerinnen und Schüler über den Nahostkonflikt reden möchten?

Lehrpersonen sind nahe dran. Im Alltag lässt sich einiges beobachten. Kinder und Jugendliche können auch nach ihren Bedürfnissen befragt werden. Weshalb nicht direkt fragen: Mir ist aufgefallen, dass euch der Krieg in Israel-Palästina beschäftigt. Möchtet ihr in der Klasse über das Thema reden?

Und was sollte eine Lehrperson beachten, wenn sie den Nahostkonflikt im Unterricht behandeln will?

Der Nahostkonflikt reicht weit in die Vergangenheit zurück. Er hat multiple Ursachen. Und er hat für viele Menschen äusserst schwierige Lebensverhältnisse zur Folge. Angst, Not und Verlust gehören zu ihrem Alltag. Israelische Zivilpersonen sind durch Gewalt, Geiselnahme und weitere terroristische Akte traumatisiert. Gleichzeitig ist die Situation für die palästinensische Zivilbevölkerung unglaublich prekär und fast ausweglos. Auf beiden Seiten sind viele Todesopfer zu beklagen. Dennoch geben Betroffene, zugewandte Menschen und internationale Akteure die Hoffnung nicht auf. Dies ist vielleicht das Eindrücklichste am Ganzen und ein Gegenpol zu den Bildern der Zerstörung und des Grauens. Vielleicht müsste man das betonen.

Zudem: Wir leben in einer globalisierten Welt. Es gibt Schülerinnen und Schüler in der Schweiz, die Verbindungen, Freunde und auch Familie haben im Konfliktgebiet. Weitere fühlen sich durch ihre Religionszugehörigkeit stärker involviert. Sie ernst zu nehmen mit ihren Anliegen, scheint mir ein Gebot der Stunde. Insgesamt braucht es ein offenes Ohr und zugleich einen klaren Kompass in Gesprächen mit Kindern und Jugendlichen. Manches ist nicht verhandelbar.

Gibt es Unterrichtsmaterialien, welche die Thematisierung des Nahostkonflikts unterstützen in den Klassen?

Rund um den Ukrainekrieg entstanden Unterrichtsmaterialien und didaktische Handreichungen, welche bereits erprobt sind. Darunter sind Inhalte, die auch für die aktuelle Krise relevant sind, so beispielsweise eine Unterrichtseinheit vom Schweizerischen Roten Kreuz zu Krieg und Konflikt oder die IKRK-Materialien zur Aufgabe internationaler Organisationen in Krisengebieten. Ebenso finden sich Empfehlungen zum Umgang mit grundsätzlichen Fragen: Wie soll ich mit Kindern Krieg thematisieren? Wie kann ich mich vor verstörenden Bildern in den Sozialen Medien schützen? Was sind die Entstehungsbedingungen von News? Was sind Fake News, und welche Interessen stehen dahinter? Antworten zu solch allgemeineren Fragen sind übertragbar, auch weil die beiden Konflikte zeitlich nah beieinanderliegen. Die Beschäftigung mit dem eigentlichen Konflikt benötigt dann aber spezifische Materialien.

Für welche Altersstufe sind welche Themen angebracht?

In einer Primarschule kann über Krieg und Frieden gesprochen werden. Kinder haben einen Zugang dazu. Sie bringen verschiedenste Erfahrungen mit und wissen, was ein Konflikt ist und dass Friedensschliessung schwierig ist, wenn das Herz nicht mitgehen kann.

Wie thematisiere ich den Nahostkonflikt auf Sekundarstufe?

Auch hier scheint es angebracht, von den Fragen und Anliegen der Schülerinnen und Schülern auszugehen. Die momentane Situation kann im Geschichtsunterricht Beweggrund sein, die historische Gewordenheit des Konflikts und der Friedensbemühungen zu erarbeiten. Selbstverständlich soll dabei auch über das Leid der Menschen in der Region sowie über Entstehungsbedingungen von Extremismus und Terror gesprochen werden. Die Thematisierung von Antisemitismus und Islamophobie als menschenverachtenden Einstellungen und handlungsleitenden Motiven gehört hier dazu. Schliesslich braucht es Medienbildung: Was sind vertrauensvolle Quellen? Wo ist mit Liken und Teilen Schluss in den Sozialen Medien? Was tun bei Hate Speech? Wo kann ich Grenzverletzungen melden?

Antisemitische Vorfälle beschäftigen auch die Basler Schulen. Wie gehen die Schulen am besten damit um?

Die Schulen sind gefordert, klare Grenzen zu setzen. Sie müssen ihre Haltung kommunizieren als Institution und auch die Erziehungsverantwortlichen dabei mitnehmen. Antisemitische Äusserungen dürfen nicht geduldet werden, ebenso wenig islamophobe Aussagen und Hate Speech in allen möglichen Schattierungen gegenüber Menschen unterschiedlicher Herkunft. Hier sind Schulen gefordert, klare Regeln aufzustellen und ihren Schülerinnen und Schülern zu erklären, warum diese Regeln gelten. Und schliesslich braucht es vorbereitende Überlegungen zum Vorgehen bei Regelbruch. Den wird es ebenso geben.

Verstehen Sie eine gewisse Überforderung von Lehrpersonen gegenüber dem Thema?

Der Nahostkonflikt ist komplex und erscheint tragischerweise kaum lösbar zu sein. Der aktuelle Krieg ist eine Katastrophe. Dies ist sehr bedrückend. Die öffentliche Diskussion hat in den letzten Wochen gezeigt: Wir alle suchen nach Orientierung im Ganzen. Lehrpersonen geht es ebenso.

Interview: Tamara Funck

Zur Person

Prof. Dr. Monika Waldis leitet das Zentrum für Politische Bildung und Geschichtsdidaktik am Institut Forschung und Entwicklung der PH FHNW. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die empirische Forschung und Lehre zur Didaktik der Politischen Bildung und zur Geschichtsdidaktik und die Entwicklung von schulischen Ressourcen (Schulbücher, digitale Unterrichtsmedien) in den beiden Bereichen. Monika Waldis ist ausserdem Direktorin des Zentrums für Demokratie Aarau. (tf)

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