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Literatur auf Augenhöhe

30.11.2021
In der ersten Novemberwoche stand Basel ganz im Zeichen der Literatur – nicht nur wegen der BuchBasel. Im Rahmen der Leseförderwoche «Literatur aus erster Hand» kamen Autorinnen und Autoren zu insgesamt 82 Lesungen in die Schulen. Das Schulblatt hat zwei an sehr unterschiedliche Auftritte an einer Primar- und einer Sekundarschule begleitet.
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Es lohnt sich, der eigenen Familiengeschichte nachzugehen: Beatrice Schmid bei ihrer Lesung im Dachstock der Sekundarschule Theobald Baerwart. Fotos Peter Wittwer

Das grösste Kompliment erhielt Beatrice Schmid ganz am Schluss ihrer Lesung im Dachstock der Sekundarschule Theobald Baerwart. Ein Zweitklässler, der mit seiner E-Zug-Klasse zwei Lektionen lang konzentriert der Vorstellung ihres Buchs «Du weisst mich jetzt in Raum und Zeit zu finden» gefolgt war, erklärte im Brustton der Überzeugung: «Wenn ich mal einen Vortrag zu einem Buch machen muss, nehme ich ganz sicher Ihres!»
Die gebürtige Baslerin, die heute in Lausanne lebt, ist es an diesem Morgen offensichtlich gelungen, der Klasse zu vermitteln, wie spannend eine Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte sein kann. In ihrem Erstlingswerk, an dem die Gymnasiallehrerin zum Erstaunen der Klasse ganze vier Jahre gearbeitet hat, erzählt Beatrice Schmid die Lebensgeschichte ihrer Grosstante Paula. Diese ist vor hundert Jahren – nach einer von bitterer Armut geprägten Jugend in Basel – ausgewandert, um am Aufbau der Sowjetunion teilzunehmen. Obwohl sie danach als politische Gefangene acht Jahre in einem Gulag verbracht hatte, blieb sie zeitlebens ihren Überzeugungen treu und trat bis zu ihrem Tod nicht aus der Kommunistischen Partei aus.

Die Jugendlichen finden eigene Bezüge

Aus Briefen und alten Fotos, die sie nach dem Tod ihrer Mutter im Estrich gefunden hat, (re)konstruiert die Autorin in ihrem Buch das Leben dieser mutigen Frau. Um die vielen Lücken in ihrer Familiengeschichte zu füllen, streut sie in die Aufarbeitung der Quellen immer wieder fiktive Texte ein. Darin stellt sie sich beispielsweise vor, wie ihr Grossvater 1912 als einfacher Arbeiter am sozialistischen Friedenskongress in Basler Münster teilgenommen hat.
Ausgehend von der Frage, was Paula wohl bewogen hat, im zarten Alter von 19 Jahren in ein ganz neues Leben aufzubrechen, entwickelte sich bei der interaktiven Lesung ein spannender Austausch über die Generationengrenzen hinweg. Die Jugendlichen stellten dabei von sich aus immer wieder Bezüge zu (Migrations-)Geschichten her, die sie von ihren eigenen Grosseltern kennen. Und so ganz nebenbei erfuhren sie von der Autorin einiges über die Geschichte der Basler Arbeiterbewegung und die grossen historischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts, die nicht nur ihre Familiengeschichte geprägt haben.

Grossmutter neu wahrgenommen
Im Laufe des Gesprächs rückte zunehmend die zweite Hauptfigur des Buches in den Fokus: die Grossmutter der Autorin, deren Koffer auf dem Dachstock den Anstoss zur Entstehung des Buchs gegeben hat und die den Kontakt mit ihrer Schwägerin in Russland nie abreissen liess. Im Laufe des Schreibens habe sie ihr Bild von ihrer Grossmutter Marie stark korrigieren müssen, räumte die Autorin ein: «Als Kind habe ich meine Grossmutter eher als unscheinbare und mit Kindern leicht überforderte Frau wahrgenommen. In den Dokumenten auf den Dachstock entdeckte ich aber, dass sie zu den Vorkämpferinnen für das Frauenstimmrecht in der Schweiz gehört und als junge Frau politische Zeitungsartikel geschrieben hat, die ich ihr nie zugetraut hätte.» Aus Enttäuschung darüber, was ihrer Schwägerin in Russland angetan wurde, wandte sich Marie 1956 enttäuscht von der Politik ab und trat aus der Partei der Arbeit aus.

«Fotografiert eure Grosseltern!»
Zum Schluss ihrer Lesung, die dem erklärten Anspruch mit «Literatur aus erster Hand einen lustvollen, inspirierenden und leistungsfreien Zugang zu Geschichten und zum Lesen vermitteln» in jeder Hinsicht gerecht wurde, ermunterte Beatrice Schmid die Jugendlichen, sich wie sie mit ihrer Familiengeschichte auseinanderzusetzen: «Fotografiert eure Grosseltern und Urgrosseltern und fragt sie, was sie erlebt haben, als sie noch jung waren. Und wenn sie sterben, werft alte Fotos und Erinnerungsstücke an sie nicht einfach weg. Ich versichere euch, ihr werdet es später nicht bereuen.» Peter Wittwer

Die Autorin Beatrice Schmid stellt ihr Buch «Du weisst mich jetzt in Raum und Zeit zu finden, Zwei Frauen zwischen Basel und Moskau» (Rotpunkt-Verlag) interessierten Schulklassen vor – gerne auch ausserhalb der Lesewoche. Anfragen sind zu richten an beatrice.schmid@posteo.de

Die Waldlinge zu Gast im Bläsischulhaus

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Maria Stalder entführte die 1. Klassen des Bläsi-Schulhauses einen Morgen lang in die Welt der Waldlinge.

wit. An der Lesewoche «Literatur aus erster Hand» wird der Anspruch, Jugendbuchautorinnen und -autorinnen in direkten Kontakt mit ihrem Zielpublikum zu bringen, auf sehr unterschiedliche Weise eingelöst. Wie das schon bei Erstklässlern funktionieren kann, zeigte an der Lesewoche die Kinderbuchautorin Maria Stadler. Parallel zur Lesung von Beatrice Schmid entführte die Innerschweizerin ein paar Häuser weiter die 1. Klassen des Bläsi-Schulhauses einen Morgen lang in die von ihr kreierte Welt der «Waldlinge».

Bevor die Kinder erfuhren, was der kleine Lärchenzapfen, der grossen Birkenkerl und all die anderen «Waldlinge» im Wald alles erleben, zeigte Maria Stadler der Klasse erst einmal, wie sie am Anfang des Buches von geheimnisvollen Kinderhänden geschaffen werden. Die Kinder durften raten, was es alles braucht, um einen «Waldling» selbst herzustellen. Dass dabei eine Leimtube auf dem Bild fälschlicherweise als Zahnpasta identifiziert wurde, spielte da keine grosse Rolle. Schon war die Klasse mitten in der Geschichte drin. Und Maria Stalder konnte mit der Erzählung loslegen, wie die «Waldlinge» auf Umwegen lernen, dass es viel besser ist, etwas zu teilen, als nur auf seinen eigenen Vorteil zu achten.

Bilder sind wichtig
In der Klasse mit vielen fremdsprachigen Kindern dürften zwar nicht alle jede Wendung der Geschichte und die Moral am Schluss verstanden haben. In Kinderbüchern sind aber Bilder bekanntlich genauso wichtig wie der Text. Zu Lesungen auf der Primarstufe gehört es deshalb, dass die Kinder nicht nur zuhören, sondern selbst zum Gestalten und Weiterspinnen der Geschichten ermutigt werden. Im vorliegenden Fall konnten die Klassen wählen, ob sie einen «Waldling» aus gesammeltem Material basteln wollen. Oder ob sie unter kundiger Anleitung von Maria Stalder, die an der Hochschule Design & Kunst in Luzern Illustration studiert hat, eine der Figuren zeichnen möchten. In dieser Klasse fiel die Wahl auf das Zeichnen. Die professionelle Illustratorin verriet ihnen dazu ein paar Tricks, wie man den langen Ragnar oder den dicken Zirbel einfach nachzeichnen kann. Und schon beugten sich alle übers Papier und spannen mit viel Fantasie das weiter, was sie an diesem Morgen von den «Waldlingen» gehört hatten…

«Literatur aus erster Hand»

Für die alljährliche Lesewoche «Literatur aus erster Hand» lädt die Bibliothek des PZ.BS seit vielen Jahren im Herbst Literaturschaffende nach Basel ein. Diese können von Basler Schulen kostenlos für Lesungen mit Zeichen- und Bastelworkshops oder Diskussionen über Bücher gebucht werden. Dieses Jahr waren es nach Auskunft von Bibliotheksleiterin Vivianne Pescatore Naef insgesamt 82 solche Veranstaltungen, in denen Schülerinnen und Schüler Autorinnen und Autoren live erleben konnten und zum Lesen und vielleicht sogar zum Selber-Schreiben angeregt wurden. Auch ausserhalb der Lesewoche vermittelt die Bibliothek das ganze Jahr hindurch auf Wunsch Schulbesuche von Literaturschaffenden aus der Region – sei es für eine Erzählnacht, einen Schulbesuch oder eine Schreibwerkstatt.
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www.edubs.ch/laeh

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