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Wer unterrichtet hier?

20.09.2021
Mathilda besucht seit den Sommerferien die 2. Klasse der Primarschule Sevogel. Das Schulzimmer auf dem Foto löst Fragezeichen in ihr aus. Das muss doch ein Kindergarten sein, oder? Es hat so viele Bastelsachen.
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Eine Schülerin rät

«Oh, ich zähle elf Stühle, das muss bedeuten, dass es elf Kinder in dieser Klasse hat, stimmt‘s? Dieses Zimmer kann von keiner Primarklasse sein, denn es hat viele lustige Dinge an der Wand, wie Zeichnungen mit einem Ball, Regenwurm oder einer Girlande. Vielleicht ist das ein Kindergarten. Ich bin sicher, die Kinder haben ganz viel Spass in dem Zimmer. Hier sieht es ziemlich leer aus, aber das ist vielleicht, weil jetzt gerade Ferien sind.

Das Zimmer erinnert mich an mein Klassenzimmer. Wir haben auch ein altes, braunes Klavier, die gleichen Stühle und ein bequemes Sofa. So einen Vogelbaum wie an der linken Wand haben wir auch. Unsere Vogelfamilie heisst Ela und Alo, ich würde gerne wissen wie die Familie in dieser Klasse heisst. In meiner Klasse sind wir schon gross, deswegen haben wir grössere Tische. Wir haben aber mehr davon, weil wir 16 Schüler und Schülerinnen in der Klasse sind. Ich denke, dass ich mich schnell an dieses Zimmer gewöhnen könnte, wenn das mein neues Schulzimmer wäre. Mir gefällt, dass es nicht so langweilig ist.

Wenn ich dem Zimmer einen Namen geben dürfte, wäre es das Dschungelzimmer, weil es soooo viele Pflanzen und Bäume hat. Aber warum hat es diesen grossen Tisch mit vier Stühlen in der Mitte? Sowas haben wir nicht. Die beiden Fenster rechts sind sind sehr gross, da ist es bestimmt warm im Sommer. In unserem Zimmer lernen wir viel, deswegen haben wir viele Bücher und Hefte. Das gibt’s hier gar nicht, lernen die Kinder gar nicht in dem Raum? Aber für ein Bastelzimmer hat es zu wenig Farben, hmm das ist komisch …»

Aufgezeichnet von Lara Zimmermann

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Die Auflösung

Viele Bastelsachen und nur wenige Stühle: Mathilda kann sich nicht vorstellen, dass hier Primarschulkinder wie sie zur Schule gehen. Sie ist aber überzeugt, dass die Buben und Mädchen in diesem Raum Spass haben. Das ist ganz im Sinne von Caroline Fahrni: Die Primarlehrerin möchte, dass sich ihre Schülerinnen und Schüler im DaZ-Zimmer der Primarschule Bläsi wohl fühlen. Die 15 Kinder sind erst vor Kurzem nach Basel gezogen und lernen jetzt zuerst einmal Deutsch.

Beim Blick aus dem Fenster wird sofort klar, wo Caroline Fahrnis kleines, schmales Klassenzimmer liegt: direkt gegenüber dem Bläsi-Schulhaus. Die sechs- bis zwölfjährigen Buben und Mädchen, die hier einen Teil ihres Unterrichts verbringen, haben eines gemeinsam: Sie sind mit ihrer Familie neu in die Schweiz gezogen und müssen sich nun zuerst mit der deutschen Sprache vertraut machen. «Meine Schülerinnen und Schüler kommen aus Litauen, Vietnam, Albanien, Italien, Indien, Eritrea, Äthiopien, Afghanistan, Brasilien oder aus dem Senegal», zählt die DaZ-Lehrerin einen Teil der Länder auf, aus denen die Kinder bis zum Umzug nach Basel gelebt hatten. Manche sind in ihrer Heimat zur Schule gegangen, andere können weder lesen noch schreiben. Und wie in anderen Primarschulklassen bringen auch Caroline Fahrnis Schülerinnen und Schüler ganz unterschiedliche Stärken und Schwächen mit: Kinder mit Dyskalkulie drücken hier ebenso die Schulbank wie besonders Begabte.

Sprachfokus auch in Mathe

Jedes der 15 Kinder hat seinen individuellen Stundenplan. Für alle aber gilt: Der Fokus liegt in sämtlichen Fächern auf der Sprache. Wie beim Zahlenrätsel zum Beispiel, das gerade an der Wandtafel zu lesen ist: Stefan ist jünger als 40 Jahre. Sein Alter ist eine ungerade Zahl. Die Quersumme ist 8. Er ist kein Teenager mehr. «Nur wenn sie die Aussagen ‹jünger als›, ‹ungerade Zahl›, ‹Quersumme› und ‹kein Teenager› verstehen, können sie das Rätsel lösen.»

Ebenfalls ein Fokus liegt auf Lernspielen, bei denen man reden oder lesen muss. Wie bei «Uno» zum Beispiel: «Sieben rot» oder «Nimm zwei Karten». Und Memory natürlich, wo die Kinder beschreiben, was auf den Kärtchen abgebildet ist: «Der Junge giesst die Pflanzen.» Die neu Zugezogenen lernen so viel von jenen, die schon länger hier sind. «Und sie erfahren dabei auch, was die Klassenkameradinnen und -kameraden in den vergangenen Monaten schon alles gelernt haben.» In Caroline Fahrnis Unterricht wird hie und da auch gesungen. Die diplomierte Violinistin begleitet die Kinder dann auf dem tragbaren Kofferharmonium, das neben ihrem Pult einen prominenten Platz hat.

Was ist eine «Röschti»?

Wichtig ist der Primarlehrerin, dass die Kinder das DaZ-Zimmer als Ort erleben, an dem sie sich wohlfühlen. Denn zu Beginn verstehen sie kaum ein Wort, kennen niemanden und müssen sich teilweise auch in eine ganz andere Schulkultur einleben. «Das ist die Realität meiner Schülerinnen und Schüler. Umso wichtiger ist es zu erfahren, dass es hier allen gleich geht: Alle sind neu und fremd in Basel, wissen nicht, was eine ‹Röschti› ist und waren noch nie auf der ‹Herbschtmäss.›»

Die meisten besuchen während drei bis sechs Monaten das DaZ-Zimmer. Für manche Fächer, etwa Sport, Zeichnen oder Werken, sind sie schon viel früher in ihrer Stammklasse. «Wenn sie anfangen, Schweizerdeutsch in ihre Sprache einzubauen, oder fragen, wie lange sie noch hierher kommen sollen, ist das ein deutliches Indiz dafür, dass dies nicht mehr lange der Fall sein wird.»

Berufsziel Architekt

Manche ihrer ehemaligen Schülerinnen und Schüler schauen auch nach der Primarschulzeit hie und da wieder bei Caroline Fahrni rein. Wie der Junge aus Eritrea, der über Äthiopien geflohen ist und ihr seine furchtbare Fluchtgeschichte schilderte, als sein Deutsch dafür ausreichte. «Jetzt besucht er die FMS und möchte Architekt werden.»

Text: Valérie Rhein
Fotos: Grischa Schwank

 

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