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Starkes, zu Stärkendes, Zerbrechliches

27.05.2020
Die Corona-Situation ist eine Krisensituation. Alle Beteiligten sind einem hohen Veränderungsdruck ausgesetzt, auf allen Entscheidungsebenen wird unter Bedingungen der Ungewissheit und der Zeitnot gehandelt. In Krisen zeigt sich, wie es um die Belastbarkeit eines Systems steht. Welche Strukturen und Prozesse halten stand? Welche erweisen sich als (zu) zerbrechlich oder sind in der aktuellen Form untauglich? Die fünf Mitglieder des Leitungsausschusses der KSBS haben sich einzelne Aspekte vorgenommen und versuchen eine erste – natürlich noch sehr unvollständige – Zwischenbilanz.
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Die Kantonale Schulkonferenz Basel-Stadt (KSBS) steht für die gesetzlich verankerte Partizipation aller Basler Lehr-, Fach- und Leitungspersonen in schulorganisatorischen und unterrichtsbezogenen Belangen. An den jeweiligen Schulstandorten stellen die Konferenzen und ihre Vorstände dies sicher, auf kantonaler Ebene der rund 60-köpfige KSBS-Vorstand und der Leitende Ausschuss (LA). Der einfache Grundgedanke lautet: Die Bereitschaft, sich konstruktiv zu engagieren, setzt robuste Mitsprache- und Mitwirkungsrechte voraus. Aus unserer Sicht gilt diese Prämisse auch in Krisensituationen.

Mitwirkung bei Notverordnungen gewahrt
Die KSBS wurde in wichtige Entscheide miteinbezogen: Der LA konnte sich zu den beiden COVID19-Notverordnungen (Änderungen in der Laufbahnverordnung, Verordnung über die Abschlüsse an den weiterführenden Schulen) äussern. Diese Anhörung erfolgte unter höchstem Zeitdruck und unter der Bedingung der strikten Vertraulichkeit, ermöglichte es aber, die Umsetzung des von Erziehungsdirektor Conradin Cramer vorgegebenen und auch von uns unterstützten Grundsatzes zu überprüfen:

Keine Schülerin, kein Schüler soll schulisch unter Corona-bedingten – also unverschuldeten – Nachteilen leiden. Zudem konnte sich der LA KSBS zusammen mit der Geschäftsleitung der FSS in wöchentlichen Videositzungen mit dem Leiter Volksschulen sowie dem Leiter Mittelschulen und Berufsbildung einbringen. Zeit- und Entscheidungsdruck entstand immer wieder durch die Abhängigkeit von übergeordneten interkantonalen und eidgenössischen Entscheidungen (z.B. EDK-Beschlüsse, Bundesratsentscheide). Ein regulärer Einbezug der Standortkonferenzen und ihrer Vertretungen (z.B. Vernehmlassungsverfahren) war so nicht möglich.

Schutzkonzepte und Umsetzung vor Ort
Beim Entscheid zur Vollöffnung der Basler Volksschulen sowie bei der Ausarbeitung der kantonalen Schutzkonzepte (obligatorische und weiterführende Schule) fand kein direkter Miteinbezug statt. Sowohl KSBS wie FSS mussten sich bezüglich arbeitsrechtlicher Unklarheiten und Fragen zum Gesundheitsschutz sowie schulorganisatorischer und pädagogischer Belange selber einbringen. Vorschläge zur Wiederöffnung der Volksschule in Etappen und zur Umsetzung mit differenzierten Lerngruppengrössen stiessen auf kein Gehör, viele einzelne Anliegen wurden vom ED aber aufgenommen. Zahlreiche Rückmeldungen aus den Standorten zeigen die verbreitete Verunsicherung bei der Implementierung der zum Teil sehr allgemeinen Schutzkonzept-Vorgaben. Ein Beispiel ist die zentrale Vorgabe, der Mindestabstand von zwei Metern zwischen Erwachsenen und Schülerinnen und Schülern sei «möglichst» einzuhalten: Die grosse Zahl an Wortmeldungen zur Widersprüchlichkeit und fehlenden Praxistauglichkeit lassen vermuten, dass die «mögliche» Ausnahme schon allein aus unterrichtspraktischen Gründen zum häufigen Regelfall geworden ist.

Die unterschiedliche Umsetzung der Schutzkonzept-Vorgaben vor Ort entspricht dem Prinzip der Teilautonomie: Die Umsetzung orientiert sich zu Recht an den standortspezifischen Gegebenheiten. Trotzdem verlangen wir die baldige Umsetzung eines konsequenten und stufenbezogenen Monitorings durch das ED, damit nicht zu grosse Ungleichheiten entstehen («Wildwuchs»). Auch hier weisen Rückmeldungen aus den Standorten auf die Dringlichkeit dieses Anliegens hin.

Integrative Schule und Chancengerechtigkeit
Zwar kam der Fernunterricht für fast alle Beteiligten wohl einem Sprung ins kalte Wasser gleich, dennoch profitierten die Basler Lehr- und Fachpersonen davon, dass die digitale Transformation der Schulen bereits angelaufen war. Die Corona-Situation hat diese Entwicklung nun beschleunigt und das System Schule dazu gezwungen, innert kürzester Zeit einen pragmatischen und kreativen Umgang mit den digitalen Möglichkeiten zu finden. Allerdings steht nun dringend eine Systematisierung und Evaluation der Erfahrungen an, damit das pädagogische und didaktisch-methodische Potential der neuen Lehr- und Lernformen besser ausgeschöpft werden kann.

Dies gilt zum Beispiel ganz besonders für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf, die zum Teil sehr gut auf digitale Lernmaterialien ansprechen.

Gerade hier zeigt sich aber, dass die oft unzureichenden Strukturen zuhause im Fernunterricht eine Verstärkung der Ungleichheit provozieren. Es gibt deutliche Anzeichen, dass insbesondere sozial belastete Familien durch dauerhaften Distanzunterricht noch schlechter erreicht werden können als im Normalbetrieb. Die Frage nach der Chancengerechtigkeit stellt sich also in der Krise verstärkt.

Diesen Befund verstehen wir als weiteren Hinweis darauf, dass die integrative Schule auch im regulären Betrieb Schwachstellen aufweist und ihren eigenen Ansprüchen noch lange nicht gerecht wird. Deshalb stellt sich die dringende Frage, wie die Schule mit den sozialen Problemstellungen umgehen soll, die zunehmend an sie herangetragen werden. Die Verantwortung für eine ganzheitliche Betreuung von Schülerinnen und Schülern mit (sozial-emotionalem) Förderbedarf einfach an die Lehr- und Fachpersonen zu übertragen, ist – nicht nur in der Krise – bestimmt zu wenig, wenn das angestrebte Ziel echte Chancengerechtigkeit ist.

Digital und Analog
Mit der Schulschliessung stellte sich die Frage, wie jetzt zu unterrichten sei. Die Anforderungen sind vom Kindergarten bis zur Berufsschule völlig verschieden und trotzdem ist das Ziel immer dasselbe: der Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler. In diesem Zusammenhang sind die Bilder von Lehrpersonen, die ihren Schülerinnen und Schülern mit dem Velo Aufgabenpäckchen ins «Milchkästli» legen, keineswegs Ausdruck von fehlender Bereitschaft zu digitalisiertem Unterrichten. Diese Bilder zeigen vielmehr eindrücklich, dass Kinder ganz unterschiedlich lernen, auch aufgrund ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe. Spätestens seit der Hattie-Studie weiss jede Lehrperson, dass – abgesehen von der Entwicklungsstufe – die Klarheit der Lehrperson, die Beziehung zwischen Schülerin/Schüler und Lehrperson sowie das Feedback die Merkmale mit der grössten Effektstärke bezüglich guten Unterrichts sind. Eine «höhere Entwicklungsstufe» bedeutet also nicht automatisch, dass Schülerinnen und Schüler mit digitalen Medien besser lernen als mit analogen.

Die Lehrpersonen haben sich der neuen Situation schnell angepasst und auch weniger erfahrene Kolleginnen und Kollegen haben sich sofort auf Videokonferenzen mit Teams, Paddlet, Forms, Quizlet etc. eingelassen, ohne über die Wirksamkeit der Methoden wirklich Bescheid zu wissen. Genau dieser Anspruch der Wirksamkeit muss bei der Digitalisierung aber in den Fokus rücken, wenn sie erfolgreich verlaufen soll.

Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Das ED hat grösstes Interesse daran, auf dem Arbeitsmarkt die besten und motiviertesten Lehr- und Fachpersonen für sich zu gewinnen. Dabei spielen Arbeitsbedingung wie Lohn, Arbeitszeit, Arbeitszeitmodelle, Lohnnebenleistungen eine wichtige Rolle. Auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist für viele ein entscheidender Faktor bei der Wahl des Arbeitgebers. 

Während der Schulschliessung hat sich gezeigt: Homeoffice kann die Vereinbarkeit von Familie und Lehrberuf unterstützen. Es bleibt bei gleichbleibendem Arbeitspensum insgesamt mehr Zeit für Familie und Kinder, die Zeit für den Arbeitsweg entfällt und sowohl Tagesbeginn wie auch Tagesrhythmus können selbstbestimmter und individuell angepasst werden. Insgesamt erhöht sich also die Flexibilität in vielerlei Hinsicht.

Aber Homeoffice kann die Vereinbarkeit von Familie und Lehrberuf auch arg strapazieren: Fernunterricht bei gleichzeitiger Betreuung der eigenen Kinder funktioniert selten. Alleinerziehende Lehrpersonen gelangen schnell an ihre Grenzen. Was tun, wenn eine beengte Wohnsituation besteht? Und wie sieht die Rollenverteilung zwischen Frau und Mann aus, wenn beide gleichzeitig zu Hause sind, beide arbeiten und sich um die Kinder kümmern sollten? Es findet eine Vermischung von Arbeit, Familien- und Freizeitaktivitäten am gleichen Ort statt, was zu Konflikten und Gewaltausbrüchen führen kann. Ein positives Veränderungspotential besteht bei alten Gewohnheiten: Muss wirklich jede Sitzung als Präsenzsitzung vor Ort stattfinden?

Wozu Maturprüfungen?!
Die Maturprüfungen im Schuljahr 2019/20 entfallen – nicht überall, aber in Basel-Stadt und anderen Kantonen. Begründet wird dieser Ausfall unter anderem damit, dass für die Prüflinge keine für alle gleichermassen faire Vorbereitungs- und Prüfungsbedingungen herzustellen seien, dass die Maturprüfungen in ihrer Bedeutung eh überschätzt würden (sie machen nur ca. 20 Prozent der Gesamtbenotung in einem Maturzeugnis aus), dass die Erfahrungsnoten in den fünf Maturprüfungsfächern das Leistungsvermögen der Schülerinnen und Schüler repräsentativ wiedergeben würden. Diese Argumentation führt zur provokativen Frage, ob Maturprüfungen überhaupt noch notwendig sind – eine Frage, die auch von der EDK-Präsidentin Silvia Steiner in einem NZZ-Interview gestellt wird. Darauf wird in den kommenden Schuljahren eine überzeugende Antworten zu finden sein: nicht nur im Rahmen der angelaufenen Prozesse zur Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität, sondern ganz grundsätzlich!

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Eine Primarschulklasse zum «Distance Learning»

Nach dem Fernunterricht ist vor dem Fernunterricht. Da bleibe ich lieber mal realistisch. Und befrage meine Schülerinnen und Schüler am ersten Tag der physischen Wiederankunft: «Na, wie war das noch einmal mit dem ferngesteuerten Lernen bei euch zuhause?» Zuerst sprudelt es vorab mal Positives: Unisono sind alle der Ansicht, überall Fortschritte erzielt zu haben. Also bei Lesen und Schreiben und Rechnen und Geometrie und Gestalten und Französisch und Musik und überhaupt.

Bei solchem pädagogischem Vollerfolg regt sich in jeder halbwegs erfahrenen Lehrperson die gesunde Skepsis: «Was könnten wir Lehrpersonen trotzdem besser machen?» Und da sprudelt es erneut und ich erhalte das qualitative Feedback, das mich und meine Schule hoffentlich weiterbringen wird:

  1. Die Computer zuhause funktionieren nur bei der Hälfte der Klasse und müssen oft mit Geschwistern geteilt werden. (Da freuen wir uns alle auf den ICT-Rollout im nächsten Schuljahr!)
  2. Die Aufgabensammlungen waren ziemlich umfassend, aber individuell zu wenig differenziert. Die einen wollen mehr davon, die anderen auf gar keinen Fall noch einmal so etwas. Was nun?
  3. Eine effiziente Arbeitsstruktur ist zuhause bedeutend schwieriger einzurichten; im normalen Präsenzunterricht wird die Struktur gleich mitgeliefert. Wenn dann wie im Ramadan die Nacht zum Tag wird, hilft das auch nicht gerade. Coronatime zur Fastenzeit – das passt einfach schlecht.
  4. Virtuelle Betreuung durch die Lehrperson ist zwar oft willkommen. Dennoch haben während des Fernunterrichts viele Schülerinnen und Schüler ihre Chance zum Selbständiger-Werden virtuos gepackt. Das macht Mut: zur differenzierten Weiterentwicklung des digitalen Unterrichtens

Danke, liebe Drittklässler, für diese packenden Rückmeldungen. Ich bin trotzdem froh, seid ihr wieder hier, vor Ort! Jean-Michel Héritier

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