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Rassismus in Unterrichtsmaterial

03.05.2021
Viele Schulbücher sind in ihrem Kern rassistisch. Sollen die Kantone die Schulbücher aus dem Verkehr ziehen? Und wie geht man mit Unterrichtsmaterial aus dem Internet um, das von niemandem zentral überprüft wird?
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Im Lehrmittel «Gesellschaften im Wandel» wird Rassismus thematisiert. Foto Stephanie Lori

Die Vorwürfe im Sonntagsblick vom 15. November 2020 waren klar und massiv: Schulbücher seien in ihrem Kern rassistisch. Die Schlagzeile des «Blick» stützte sich auf die Arbeit von Rahel El-Maawi und Mandy Abou Shoak. Die beiden hatten fünf Deutsch- und vier Geschichtslehrmittel für die Mittel- und Oberstufe untersucht und kamen zum Schluss, dass explizit rassistische Ausdrücke selten sind, die Wahl der Bilder, die Kontextualisierung und vor allem die Erzählperspektiven in den Lehrmitteln den abwertenden Blick auf People of Color aber aufrechterhalten.

Weglassen ist keine Lösung

Wie gehen wir mit dieser Erkenntnis um? Viele Lehrpersonen arbeiten auch nicht nur mit den Schulbüchern, die auf den Lehrmittellisten stehen, sondern sie suchen und finden im Internet Material in Hülle und Fülle, das sie im Unterricht einsetzen wollen: Quellen, Arbeitsblätter, Blogbeiträge, Filme, Erklärvideos, Podcasts ...

Per Gesetz oder mit verschärften Kontrollen wird sich das Problem nicht beheben lassen. Es wird noch lange Sätze, Bilder, ganze Texte geben, die Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihres Status in der Gesellschaft, ihrer sexuellen Identifikation, körperlicher Eigenschaften, ihrer Religion abwerten – die Liste von Kategorien, die Ausgrenzung und Entmachtung ermöglichen, ist lang. Lehrerinnen und Lehrer müssen pragmatisch selbst entscheiden können, wie sie mit rassistischen Bildern, Formulierungen und Narrativen umgehen. Eines ist jedenfalls sicher: Weglassen ist keine Lösung. Im Gegenteil.

Rassismus beruht auf Interaktion

Rassismus steht in einem kommunikativen Kontext, beruht auf Interaktion. Das gilt sowohl historisch wie auch im Alltag. Wenn man Rassismus als negative Interaktion sichtbar macht, kann man darüber ins Gespräch kommen. Es hilft, bereits bei der Unterrichtsvorbereitung kritische Fragen zum Material zu stellen (vgl. Kasten) und Definitionen für zentrale oder problematische Begriffe bereitzustellen. Die Fragen lassen sich auch in der Klasse diskutieren, denn sie sind ein wichtiges Werkzeug für Quellenkritik oder Lektürebesprechung und ermächtigen Schülerinnen und Schüler dazu, selbst zu erkennen, wenn Beiträge ausgrenzend sind.

«Den anderen eine Stimme geben» – gar nicht so einfach!

Die Fragen haben einen weiteren positiven Effekt: Sie erzeugen Multiperspektivität und animieren zum Hinschauen. Doch Vorsicht! Wie kann ich sichtbar machen, dass diese Alternative nicht alle «andern» einschliesst? Oft lauert dahinter nämlich die Falle, dass wir eine Stimme, eine Person, eine Institution für «die Kolonisierten», «die Juden», «die Frauen» sprechen lassen. In der Fachdiskussion wird dieses Vorgehen «Tokenism» genannt. Es trägt erneut zur Homogenisierung der «anderen» bei und verschleiert Machtverhältnisse, Auseinandersetzungen, oft auch Entwicklungen über die Zeit hinweg.

Auch im Schulzimmer kann «Tokenism» zum Problem werden, etwa, wenn bei einer Diskussion über das Wort «Mohrenkopf» der einzige dunkelhäutige Schüler der Klasse gefragt wird, wie denn «People of Color» dieses Wort empfinden. Gut gemeint – doch hier wird der Junge zu einem «token», einem Symbol, einem Repräsentanten einer ganzen Gruppe. «Tokenism» ist eine implizite Form von Rassismus, die vielen nicht bewusst ist. Das macht ihn in der Wirkung allerdings nicht weniger problematisch.

Expliziter Rassismus im Schulzimmer – Anlass für ein Gespräch

Einfacher zu erkennen ist expliziter Rassismus, etwa rassistische Schimpfwörter oder problematische Textstellen. Diese Situationen können den Anlass für ein Gespräch über Rassismus bieten, doch direkt zu reagieren liegt nicht immer drin. Für ein Gespräch über Rassismus braucht es Zeit, eine vertrauensvolle Klassenkultur und Wissen auf Seiten der Lehrperson: über einzelne Wörter, über verlässliche Ressourcen zum Nachschlagen, über Gesprächsführung.

Wie mit rassistischen Situationen umgegangen wird, hängt auch von der Tagesform der Lehrperson ab: Ein Nein zum vertieften Gespräch hat mit den verfügbaren Ressourcen zu tun, mit bestehendem Druck, mit der konkreten Situation. Was aber immer möglich ist, ist, den Moment zu bemerken und sich später zu überlegen, wie es damit weitergehen soll. Man kann sich Wissen holen, Zeit oder einen Anlass schaffen, beim nächsten Mal einhaken und dabei auch an diesen Augenblick erinnern. Die Lehrperson kann dann erläutern, welchen historischen Ballast ein Wort trägt; sie kann an einem rassistischen Wort zeigen, wie sich Sprache im Verlauf der Zeit verändert und mit der Klasse die Bedingungen einer solchen Veränderung zur Forschungsaufgabe machen; sie kann darauf eingehen, was für Folgen es hat, wenn Worte wie dieses verwendet werden.

Viele kleine Taten machen Rassismus aus – und wirken ihm entgegen

Rassismus ist Teil der Gesellschaft, in der wir leben, und kommt auch in Unterrichtsmaterial vor. Niemand schafft ihn in einer Lektion aus der Welt, nicht einmal aus der Klasse. Genauso, wie viele kleine Aktivitäten Rassismus am Leben erhalten, wirken ihm viele kleine Aktivitäten entgegen. Es braucht nicht immer die ganze Stunde zu sein: Reflektierender Umgang kann bereits darin liegen, dass jemand im Raum auf eine Formulierung aufmerksam macht, die Perspektiven erweitert, hinschaut. Das Ziel ist, dass sich Lehrpersonen und Schülerschaft bewusst werden, dass Rassismus da ist, dass sie wissen, dass Nachfragen, Zuhören und Nachdenken, dass Kommunikation und Interaktion wichtige Gegenspieler von Rassismus sind – das kann jede und jeder im Auge behalten.

Bryan Stutz und Alexandra Binnenkade, Pädagogisches Zentrum PZ.BS


Dieser Artikel ist in einer längeren Version auf www.schulendigital.ch erschienen. Dort gibt es auch viele Links zum Thema. Die Wanderausstellung «Mensch, du hast Recht(e)» des Pädagogischen Zentrums bietet Klassen ab dem 9. Schuljahr einen altersgerechten Anlass, um anhand konkreter Beispiele über Rassismus und Diskriminierung ins Gespräch zu kommen. www.edubs.ch/menschduhastrechte

Fragen, die man Unterrichtsmaterial stellen kann

Texte (Quellen, Schulbücher, Arbeitsblätter)

  • Wessen Perspektive wird geschildert? Wer fehlt?
  • Wer ist aktiv, wer passiv?
  • Mit welchen Bezeichnungen, Verben, Adjektiven arbeitet der Text? Pauschalisierungen wie «die Europäer» oder «die Weissen» sind irreführend; «die Eingeborenen» schreibt man nur, wenn man aus der Sicht derjenigen schreibt, die nicht wissen, wer dort lebt; Passivkonstruktionen verschleiern Gewalt und Verantwortlichkeiten
  • Welche Folgen sind benannt, welche nicht?
Bilder
  • Wer ist oben, wer ist unten? Wer ist bekleidet und wer nicht?
  • Wer ist wohlhabend, wer nicht?
  • Wer steht «im Licht»?
  • (Wie) Werden Machtverhältnisse sichtbar?

Filme und Tondokumente

  • Wer spricht korrekt und wer nicht? Angenehm oder unangenehm?
  • Wer bewegt sich auf vertraute Weise und wer nicht?
  • Wer hat wie viel Redezeit, Entscheidungsmöglichkeiten?
  • Welche Wirkung haben Musik und Hintergrundgeräusche?

«Grundsätzlich kann jeder ein Lehrmittel veröffentlichen»

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Das Schulblatt sprach mit Daniel Aeschbach, der das Dossier Lehrmittel in der Volksschule betreut.

Basler Schulblatt: Wer prüft in der Schweiz die Qualität von Lehrmitteln?

Daniel Aeschbach: Grundsätzlich herrscht bei den Lehrmitteln ein freier Markt. Das heisst, jede und jeder kann ein Lehrmittel oder Unterrichtsmaterialien veröffentlichen. Es gibt in der Schweiz keine zentrale Stelle, die die Qualität prüft. Dies ist Sache der Kantone.

Wie ist es in Basel-Stadt? Wie gehen Sie dabei vor?

Wir beobachten den Lehrmittelmarkt laufend. Neuerscheinungen werden lange im Voraus angekündigt. Auch Lehrpersonen oder Kollegien können Vorschläge machen, welche Lehrmittel evaluiert werden sollen. Wenn wir entscheiden, dass ein Lehrmittel evaluiert werden soll, stelle ich mit der für das entsprechende Fach zuständigen Person am PZ.BS ein Evaluationsteam zusammen. Die Ergebnisse der Evaluation werden in einem Bericht zusammengefasst, der in die Volksschulleitungskonferenz kommt und diskutiert wird. Bei fakultativen Lehrmitteln entscheidet sie über die Aufnahme, bei obligatorischen fällt der Erziehungsrat den abschliessenden Entscheid.

Wie evaluieren Sie konkret? Werden rassistische Aspekte überprüft?

Für die Evaluation benützen wir «Levanto», ein Tool, das von der interkantonalen Lehrmittelzentrale ilz entwickelt wurde und über siebzig Kriterien umfasst. Viele drehen sich um den Lehrplan oder um pädagogische Aspekte. Aber es gibt auch Kriterien wie «Das Lehrmittel bringt unterschiedliche kulturell geprägte Inhalte und Perspektiven zur Geltung» oder «Das Lehrmittel zeigt diverse Rollenbilder und bildet in seiner Gestaltung (Grafik, Bilder, Texte) die Vielfalt der Gesellschaft und der Geschlechtszuordnungen ab».

Interview Alexandra Binnenkade, Pädagogisches Zentrum PZ.BS

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