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Im Umgang mit Langeweile geübt

15.04.2020
Unfreiwillig, aber wirksam: Das Projekt «Spielzeugfreier Kindergarten» im Gellert war eine optimale Vorbereitung auf den Corona-Shutdown. Als hätten sie geahnt, dass schon bald Eigeninitiative im höchsten Mass gefragt ist: Zwei Basler Kindergärten hatten im Januar sämtliche Spielsachen für zwölf Wochen in die Ferien geschickt.

Damit hatte niemand gerechnet. Nichts deutete Anfang Jahr darauf hin, dass bald alle Schulen in weiten Teilen Europas  für viele Wochen geschlossen würden. Damals startete im Doppelkindergarten im Gellert das Projekt «Spielzeugfreier Kindergarten»: Sämtliche Spielsachen wurden für zwölf Wochen – so war‘s geplant – in die Ferien geschickt (Reportage und Projektbeschrieb im BSB 01 vom Februar). Statt Spielzeug gab es nur noch Zeug zum Spielen. Und natürlich die Gspänli. Danach sollten Lego, Puppen, Playmobil nach und nach wieder eingeräumt werden … Ein winziges Virus hat diesen Zeitplan über den Haufen geworfen und das Projekt abrupt beendet. Aber: Das Hauptziel war da schon erreicht!

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Die Ernüchterung

Doch blenden wir zurück. Und zwar ungeschönt. Nachdem die Kinder während zwei Wochen alle Spielsachen begeistert in Schachteln verpackt, Regale geleert und Schubladen ausgeräumt hatten, machte sich erst mal Ernüchterung breit. Die entstandene Leere überforderte die meisten Kinder. Ratlosigkeit und Langeweile prägten endlos lange Kindergarten-Morgen. Nach der ersten Woche hätten die beiden Kindergartenlehrpersonen Rebecca von Burg und Sabine Nimeley das Projekt am liebsten abgebrochen. Frustriert mussten sie feststellen, dass die Kinder nichts mit der Leere respektive der neuen Freiheit anzufangen wussten – ausser  über Tische zu rennen und von Simsen zu springen. «Andere sind tagelang nur rumgestanden und rumgesessen und haben gewartet, bis es endlich 12 Uhr ist», sagt Rebecca von Burg, die es selber kaum ausgehalten hat, den Gelangweilten keine Spielideen anbieten zu dürfen. «Was machst du denn zuhause, wenn dir langweilig ist?», fragte sie ein maulendes Mädchen. Die Antwort: «Dann spiele ich etwas auf dem iPad.»

 

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Die Wende
«Nie wieder!», dachten beide Lehrpersonen am Anfang des Projekts. Dann kam die Wende. Nach etwa zehn Tagen begannen die Kinder Ideen zu entwickeln, Spiele zu erfinden und sich zunehmend miteinander auszutauschen. Als habe es Klick gemacht! Der Schulblatt-Redaktorin zeigte sich bei ihrem zweiten Besuch ein lebhaftes Bild: Eugene ist ein Feuerdrache. Hinten in seiner Trainerhose steckt ein bauschiger Schwanz aus roten, und gelben Chiffontüchern. Durchaus friedlich besucht der Drache andere Kinder in deren Haus aus Tischen und Tüchern, während einige unermüdlich Runden auf ihrem selbstgebauten Parcours drehen:  Über eine Treppe aus Bauklötzen geht es über den Korpus auf den Fenstersims, von da über Tische, Stühle, eine Brücke und Bänke zum Absprung … und nochmal. Und nochmal.

Neue Rollen
Es hat eine Weile gedauert, bis die Kinder in der spielzeugfreien Welt angekommen sind. «Es war laut, wild und überaus konfliktreich, wir mussten ständig und überall aufpassen, dass nichts passiert, und am Mittag waren wir total erschöpft», so Sabine Nimeley. Nachträglich können sie darüber lachen, der Frust hat in Begeisterung umgeschlagen. Ihre neue, zurückhaltende Rolle aber mussten sie erst finden. Die Kindergärtnerin schreitet nämlich nur ein, wenn’s gefährlich wird oder ein Kind die vereinbarten Regeln nicht einhält. Sachen umherwerfen zum Beispiel ist verboten. Anderen wehtun auch. Wer sich nicht daran hält oder etwa die Stopp-Regel nicht beachtet, muss eine Minute Auszeit nehmen. Konflikte untereinander – so will es das Konzept – regeln die Kinder weitgehend selber. Zum Beispiel indem man sich auf den dafür vorgesehenen roten Stuhl setzt, die Glocke läutet, der Klasse sein Problem schildert und gemeinsam Lösungen diskutiert.

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Viele Konflikte
Nach zögerlichem Beginn nahm das Projekt Spielzeugfreier Kindergarten zunehmend Fahrt auf, die Begeisterung wuchs, Spielideen wurden konkreter. Schubladen wurden zu Trommeln, an die Füsse gebundene Bauklötze dienten als Schlittschuhe (die viel besser rutschten, wenn man Tücher drunter legte), ein paar Mädels feierten Hochzeit und brauchten dringend einen Bräutigam … Aron, zufällig grad schwarz angezogen, wurde auserkoren und nahm den Auftrag klaglos an. In der Garderobe entstand ein Beautysalon mit Massagetisch, wo man sich online anmelden musste. Mundschutz war da noch kein Thema …

Riesenfortschritte
Für all das brauchten die Kinder weder Spielzeug noch Anregungen oder Einmischung der Lehrpersonen. Was es brauchte: Absprachen, Austausch, Verhandeln … viel Kommunikation unter den Kindern, von denen zuhause kaum eines deutsch spricht. Es sei unglaublich, welch riesengrossen Fortschritte in Deutsch die Kinder machten, stellen beide Lehrpersonen rückblickend fest. Durch den Umgang mit den vielen Konflikten, die die Kinder selber aushandeln mussten, seien sie auch deutlich  sozialer geworden. Und: Die Gruppendynamik habe sich verändert. Kinder, die sich früher gern mit einem Spielzeug isoliert hatten, gehörten plötzlich dazu und machten sich selbstbewusst bemerkbar. Nach harzigem Start zeigen sich Kindergärtnerinnen und Kinder begeistert. Manche wollten die Spielsachen gar nicht mehr zurückhaben …

Abruptes Projektende
Dann kam Corona. Damit fand das Projekt vorzeitig ein abruptes Ende. So erfahren wir nicht, wie die Kindern reagieren, wenn sie  – wie das vorgesehen war – die Spielsachen nach und nach selber wieder zurückholen. Denn während des Corona-Shutdowns haben die Lehrpersonen die Sachen wieder eingeräumt. Man konnte ja nicht wissen, wann die Schulen wieder aufgehen, und der lange Unterbruch hätte ein geordnetes Abschliessen des Projekts eh verunmöglicht. Beide Kindergärtnerinnen sind aber überzeugt, dass sich die spielzeugfreie Zeit äusserst positiv auf die einzelnen Kinder und auch das Gruppenverhalten ausgewirkt hat und dies auch nachhaltig ist.
Dass die Kinder grosse Fortschritte beim Deutsch-Lernen gemacht haben, sei das eine. Aber auch, wie sie mit der Zeit eigenverantwortlich Konflikte lösten, Spielideen entwickelten und kreative Lösungen für ihre Vorhaben fanden, sei extrem beeindruckend gewesen. Darauf werde man aufbauen.  In Zukunft werde nicht mehr so viel Spielmaterial wie früher zur Verfügung gestellt und das freie Spiel offener gestaltet. Es scheint sich eine alte Weisheit zu bestätigen: Weniger ist oft mehr.

Yvonne Reck

Foto: Grischa Schwank

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