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Fernlernen = Präsenzunterricht mit anderen Mitteln?

15.04.2020
Kaum hatten die Schulen auf Fernlernen umgestellt, bildeten sich zwei Lager: Die einen wollten den Präsenzunterricht digital weiterführen, die andern hoben den Stundenplan auf und verzichteten nach Möglichkeit auf Computer. Beide hatten gute Argumente, doch: Wer hatte recht? Und wie wurde das in Basel gehandhabt?
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Die einen argumentierten, ohne Schule verlieren Kinder und Jugendliche ihren Tagesrhythmus, den Austausch mit der Lehrerin, dem Lehrer und ihren Mitschülerinnen und Mitschülern. Sie dachten an die ungleichen sozialen Voraussetzungen, die Schulen normalerweise zumindest ein wenig ausgleichen können, und daran, dass einige jetzt leicht den Anschluss verlieren. Ihrer Ansicht nach gab es dafür eine gute Lösung: Die gewohnte Struktur musste im Digitalen weitergeführt werden. Der Stundenplan wurde tel quel auf Videokonferenzen umgelagert. So seien die Schülerinnen und Schüler sozial eingebunden und Lehrpersonen hätten Kontrolle über den Unterstützungsbedarf ihrer Klassen.

Dasselbe Problem, eine andere Lösung

Die andern sahen dasselbe Problem aber eine andere Lösung: Gerade weil einige Kinder entweder noch zu jung sind für Schule am Bildschirm oder keinen Computer haben, oder keine Eltern, die sie beim Schritt ins Digitale unterstützen können, sollte man jetzt auf Computer verzichten. Denn in manchen Familien leben Kinder mit unterschiedlichen Stundenplänen – eine riesige Herausforderung für Kinder und Eltern! Schon die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt fürs Mittagessen verwandelte sich in eine komplexe Management-Aufgabe. 

Online-Präsenzunterricht verschärfte somit aus ihrer Sicht die Ungleichheit. Darum setzte diese Gruppe auf Arbeitsaufträge und Abgabetermine, Arbeitsblätter und Schulbücher. Wer Fragen hatte, durfte sich melden. Die Zeit bis zum Abgabetermin teilten alle selbst ein, der Stundenplan wurde ausser Kraft gesetzt.

Der Streit zog sich hin. Die einen argumentierten in Blogposts und Twitterfeeds, die andern kreierten «do und don’t»-Grafiken und immer wieder war die Rede von «best practice». Bis jemand trocken in die internationale Runde warf, es gebe keine «best practice». Eine Situation wie diese habe es noch nie gegeben. Wir alle seien nichts anderes als Teilnehmende an einem gigantischen Lernexperiment.

Die Mischung macht’s

Sie haben es sich sicher schon gedacht: Die Lösung lag im Mix. Mehrere Wochen vergingen. Die neuen Erfahrungen spiegelten sich zeitgleich in internationalen Blog-Communities und in den Schulen, auch in Basel. Der neue Fernlern-Stundenplan arbeitete nicht mit strikten 45-Minuten Lektionen, sondern mit Zeit- und Themen-Blöcken. Weniger Fächer auf einmal, mehr Tiefgang im Einzelnen. Diese Neuaufteilung entsprach den Erkenntnissen der Lernforschung, die tatsächlich als «good practice» bekannt sind:

  • Schülerinnen und Schüler lernen am besten, wenn sie sich gesehen und wertgeschätzt fühlen und in guten Beziehungen zur Lehrperson und ihren Peers stehen können
  • Lernen ist eine Folge von Denken und das ist genauso eine gemeinsame Tätigkeit wie eine individuelle
  • Diese Situation forderte alle Beteiligten stark heraus, darum: Weniger ist mehr

Was heisst das konkret?

Online ist der Ort für Beziehung, Gemeinschaft, Austausch, Präsentieren. Was hier passiert, passiert kurz, zielgerichtet, wiederholt, und ist von aussen gesteuert (klare Zeitvorgaben, Gruppeneinteilung, Themensetzung durch die Lehrperson)

Offline ist die Phase zum zur Kenntnis nehmen, Verarbeiten, Nachdenken, Produzieren. Für die Offlinephasen sind längere Zeitfenster vorgesehen, auch sie sind zielgerichtet mit klaren Arbeitsaufträgen, die in der Regel auf eine Woche hin gedacht sind. Arbeitsaufträge, auf die  alle ein förderliches Feedback erhalten, aber sie lassen den Schülerinnen und Schülern mehr Freiraum, sich Zeit und Arbeitsschritte selbst einzuteilen.

Dazwischen nutzen sowohl Lehrpersonen wie auch die Klasse traditionelle, stabile Kommunikations-Medien wie Telefon, Brief/Post, Papier, Email, das Schulhaus als Ort, an dem etwas abgegeben oder ausgeteilt werden kann, in gut begründeten Fällen – und unter Einhaltung der Hygienevorschriften – kurze persönliche Kontakte an der Schule: um Fragen zu stellen, zu zweit etwas zu erarbeiten, um sich gegenseitig Feedback zu geben, um Kontakt aufzunehmen, um eine Lernleistung einzureichen.

Was ist daran attraktiv?

Aus dem Mix entstand eine attraktive neue Unterrichtsplanung: Lehrpersonen -Teams erarbeiteten gemeinsam Lernaufträge und entwarfen einen passenden Stundenplan. Eltern schätzten es, wenn diese Aufgaben durch eine Lehrperson koordiniert abgegeben wurden. Die Hektik der ersten Wochen flaute ab. Die technische Infrastruktur war mittlerweile installiert, die Verbindlichkeit ebenso.

Wer online arbeiten konnte, teilte den Unterricht in grössere Zeit- und Fachblöcke ein. Die neuen Stundenpläne begannen oft mit einem kurzen Präsenzmoment: einer Befindlichkeitsrunde, einer Präsentationsrunde, einer gezielte Aufgabe (Tages-Challenge), etwas Sportlichem/ Motorischem/einer Achtsamkeitsübung, der Gelegenheit im Unterrichtsordner die aktuellen Arbeitsaufträge zu finden, gefolgt von einem fachlichen Input. Weil sich alle Schülerinnen und Schüler zur vorgegebenen Zeit einloggen, waren auch die Präsenzerfassung und das Thema Tagesrhythmus abgedeckt.

Die Zeit danach wurde entweder für Einzel- oder Gruppenarbeiten genutzt, on- oder offline, digital und analog. Der neue Fernlern-Stundenplan gab obligatorische Zeitfenster vor, liess aber Kindern und Familien auch Spielraum. Denn auch Kinder waren in den Alltag eingebunden: kochen helfen, Geschwister beim Lernen oder Spielen begleiten, Ämtli erledigen und danach Freizeit für alle.

Nachhaltig Lernen

Cameron Paterson, Lehrer an der Shore School in Sidney, beschrieb in seinem Blog, wie sich die Rolle der Lehrpersonen veränderte: Coachen und begleiten stand im Vordergrund, Feedback statt Noten. Seine Schülerinnen und Schüler lernten, sich weniger auf ihn, als auf sich selbst, ihre Problemlösungsfähigkeiten und Selbststeuerung zu verlassen getreu dem Motto «See three, before you see me», sinngemäss «Überleg selbst, recherchiere, frag Klassenkameradinnen, bevor du die Lehrperson fragst».

In seinem Blogbeitrag formulierte Paterson überzeugend: «Woran werden sich junge Menschen erinnern, wenn sie an die Zeit von Covid-19 zurückdenken? Es werden nicht die vielen einzelnen Fakten aus ihren Schulfächern sein. Was bleiben wird, sind Einstellungen und Gewohnheiten auf denen gute Bildung basiert: Unabhängigkeit, Resilienz, Selbststeuerung, Problemlösungskompetenz und Zusammenarbeit. Entscheidend ist, wie gut Lehrpersonen diese neuen Gewohnheiten bestärken können, damit Schülerinnen und Schüler die Isolation durch Covid-19 nicht nur überstehen, sondern auch daran wachsen können.»

Wie setzen sich diese Erfahrungen in Basel fort?

Auch die Sekundarschule Sandgruben hat mit einem solchen Stundenplan gearbeitet. Pro Tag zwei Fächer, Inputs im Team und Aufträge, die am Ende des Tages eingereicht werden mussten. Lehrerin Judith Rudin hat diesen Stundenplan mitentworfen und war mit dem Resultat zufrieden. Was bleibt nach der Rückkehr in den normalen Stundenplan davon?

Rudin berichtet, die meisten seien gut mit Tages- und Wochenplanarbeit zurechtgekommen: «Was im Normalbetrieb gut verankert ist, funktioniert in der Krise mit wenig Aufwand». Klar wurde, «Häppchenlernen» war kurzfristig das Richtige, langfristig braucht es grössere Aufträge zum Vertiefen.

Was bleiben soll, ist «Teams»: als gemeinsame interaktive Plattform für Lernmaterial und Feedbacks, als Basis für die begonnene Kollaborationen untereinander in der Klasse. Also bleibt einfach eine neue Software? «Das ist kein rein technisches Projekt, da ist didaktisch ganz viel zu überlegen. Das ist ein Schulentwicklungsprojekt für die nächsten vier Jahre!»

Dieser Beitrag wurde im April 2020 auf dem Blog www.schulendigital.ch veröffentlicht. Weitere Links finden sich dort zu Cameron Paterson: Teaching During a Global Pandemic (https://bit.ly/2ZGP94s) und Philippe Wampfler: Braucht es einen Stundenplan?
(https://bit.ly/2X69UoH)

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