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«Die Kinder sind die Experten»

30.01.2023
Eine neue Studie der PH FHNW zeigt: Die Kinder fühlen sich in den Tagesstrukturen der Basler Primarschulen wohl bis sehr wohl. Claudia Magos, Leiterin Fachstelle Tagesstrukturen, äussert sich im Gespräch mit dem Basler Schulblatt zu den erfreulich positiven Ergebnissen – und zu den Konsequenzen, die sie und die Tagesstrukturen daraus ziehen werden.
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Claudia Magos: «Die Studie hat uns darin bestätigt, dass wir in Bezug auf die Tagesstrukturen in Basel-Stadt heute grundsätzlich auf einem guten Weg sind.» Foto: Grischa Schwank

Um die Qualität der Tagesstrukturen zu ermitteln und zu verbessern wurden in der Studie der PH FHNW «nur» Kinder befragt. Was hat Sie bei den Resultaten dieser speziellen Übungsanlage am meisten überrascht?

Claudia Magos: Vieles habe ich so erwartet, doch ich hätte nicht gedacht, dass die Kinder dem Essen einen derart hohen Stellenwert einräumen. Oft sitzen sie ja nur eine kurze Zeit beim Essen, bevor sie wieder anderen Aktivitäten nachgehen. In letzter Zeit sind zudem kaum Klagen von Eltern beziehungsweise Kindern zur Qualität des Essens bis zu mir vorgedrungen. Trotz der im Bericht aufgeführten Kritik, bei der ich mir vorstellen kann, dass da eine gewisse Gruppendynamik mitgespielt hat, stelle ich bei meinen Besuchen in den Tagesstrukturen fest, dass die meisten Kinder gerne in der Tagesstruktur essen.  

Weshalb haben Sie die Untersuchung so in Auftrag gegeben?

Nachdem wir in früheren Studien schon wissen wollten, wie Lehrpersonen und das Tagesstruktur-Personal unser Angebot an Tagesstrukturen beurteilen, lag es auf der Hand, in einem nächsten Schritt unsere «Kunden» zu befragen. Wegen Corona musste die geplante flächendeckende Befragung von Eltern und Kindern leider reduziert werden. Die Aussagen basieren nun auf Aussagen von Kindern an neun Standorten, die sich freiwillig bereit erklärt haben, mitzumachen. Nach meiner Einschätzung hat das der Repräsentativität der Resultate nicht gross geschadet – ich glaube nicht, dass wir bei der Befragung von mehr Kindern noch wesentlich andere Erkenntnisse gewonnen hätten.

Zusammengefasst kann man sagen, dass die Kinder den Tagesstrukturen ein sehr positives Zeugnis ausstellen. Weshalb fühlen sich die Kinder wohl bis sehr wohl in den Tagesstrukturen?

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Tagesstrukturen vor Ort leisten eine sehr gute Arbeit und schaffen eine Atmosphäre, in der sich die Kinder wohl fühlen können. Die Kinder erleben die Tagesstrukturen primär als Freizeitort und nicht als verlängerten Unterricht. Sie gehen unterschiedlichsten Tätigkeiten nach, spielen und basteln, unternehmen Ausflüge und können mit Freundinnen und Freunden eine gemeinsame Zeit verbringen. Ich bin sehr froh, dass die Angebote den Kindern zusagen und wir in den Tagesstrukturen diesen Freizeitcharakter pflegen können.

Der Bericht deckt allerdings im Detail auch Schwächen im mittlerweile flächendeckenden Netz der Tagesstrukturen an den Basler Schulen auf. Wo sehen Sie aufgrund der Rückmeldungen der Kinder den grössten Handlungsbedarf?

Angesichts der grundsätzlich positiven Rückmeldungen würde ich nicht von Handlungsbedarf reden, sondern lieber von Augenmerk oder Fokus: Wir sollten zum Beispiel vermehrt darauf schauen, dass wir den älteren Kindern ein altersgerechtes Angebot bieten und sie noch besser auf den Übergang zur Sekundarschule vorbereiten. So könnten sie beispielsweise das Mittagessen an einem anderen Standort im Quartier – teilweise geschieht dies bereits jetzt, indem ältere Kinder in einem Jugendhaus essen – und nicht zusammen mit den Jüngeren einnehmen. Die Studie hat auch gezeigt, dass es sinnvoll ist, die Schülergruppen wenn möglich nach Alter zusammenzusetzen. So kann besser auf den Entwicklungsstand sowie die Bedürfnisse und Wünsche der Kinder eingegangen werden. Eine sehr wichtige Rückmeldung fand ich zudem das Bedürfnis vieler Kinder nach Rückzugsmöglichkeiten.

Auffallend ist, dass sich ältere Kinder kritischer äussern als jüngere und sich teils langweilen. Worauf ist dieser Unterschied zurückzuführen? Und wie lässt sich die im Bericht geforderte Balance zwischen verschiedenen Bedürfnissen finden?

Die Aussagen der Kinder liefern klare Hinweise, dass die Tagesstrukturen nicht einfach für alle Kinder das gleiche Angebot bereitstellen sollten. Der Bewegungsradius wird mit zunehmendem Alter immer grösser. Ein vierjähriges Kindergartenkind braucht noch vielmehr vorgegebene Strukturen und beispielsweise einen klassischen Mittagstisch mit anschliessender Ruhephase als ein älteres Kind. Wenn ältere Kinder das Angebot schon seit Jahren kennen und nutzen, ist es normal, dass sie sich mit beginnender Pubertät mehr Freiheit und Gestaltungsspielraum wünschen.

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Erfinderisch: Im Gang der Primarschule Bettingen dienen Bienenwaben als Rückzugsmöglichkeiten. Foto: PH FHNW

Kinder nennen das Bedürfnis nach Rückzugsmöglichkeiten und Ruhezonen. Fehlen diese, kann es zu Problemen zwischen den Altersgruppen führen. Wie kann diesem Spannungsfeld begegnet werden? Können Sie hier ein, zwei Beispiele nennen?

Der Bericht zeigt schön, dass sich Kinder ausserhalb des Unterrichts nicht nur gemeinsam austoben wollen, sondern auch immer wieder Rückzugsmöglichkeiten suchen. Das ist im Rahmen der räumlichen Gegebenheiten nicht immer einfach. In einigen Tagesstrukturen gibt es nebst separaten Räumen Zelte, Spielhäuser oder wie beispielsweise in der Tagesstruktur Bettingen hölzerne Bienenwaben, in die sich ein Kind zum Lesen oder einfach zum Ausruhen zurückziehen kann. Ausser mit solch spielerischen Lösungen lässt sich das Bedürfnis nach Ruhe auch mit organisatorischen Massnahmen befriedigen, indem einzelne Räume, in denen später wieder etwas läuft, vorübergehend zu Ruhezonen erklärt werden.

Die Studie kommt zum Schluss, dass sich Kinder dort eher wohlfühlen, wo mehr Wahlmöglichkeiten bestehen. Was bedeutet das für die Tagesstrukturen und können Sie hier positive Beispiele nennen, in welche Richtung die Entwicklung gehen sollte?

Vor ein paar Jahren schon haben wir das Konzept der sogenannten Aktivitätszonen lanciert. Damit machen wir die Kinder zu den Hauptakteuren. Sie bestimmen darüber, zu welcher Zeit sie das Mittagessen einnehmen oder einer anderen Aktivität nachgehen möchten. Dabei bleiben die Tagesstruktur-Mitarbeitenden eher im Hintergrund, begleiten die Kinder bei Bedarf und stehen für Gespräche und Interaktionen zur Verfügung. Die Kinder profitieren in ihrer Entwicklung ganz klar von dieser gewonnenen Selbstständigkeit und Selbstwirksamkeit! Das hat sich sehr bewährt! Wir haben festgestellt, dass dank dieses neuen Konzepts, die Kinder in der Regel am Nachmittag entspannter in den Unterricht gehen.

Beim Essen wünschen sich auch die Kinder mehr Wahlfreiheit, beispielsweise durch flexible Zeitfenster. Wo liegen hier die Vorteile? Und wo die Grenzen?

An den allermeisten Standorten entscheidet heute das einzelne Kind darüber, wann es das Mittagessen einnehmen und welche Speisen es essen möchte. Es gibt hier aber natürlich gewisse Grenzen: Es wird geschaut, dass sich jedes Kind Zeit zum Mittagessen nimmt und dann auch etwas isst. Und wie bereits erwähnt, sind Kindergartenkinder mit der Wahlfreiheit eher überfordert. Mit ihnen wird der klassische Mittagstisch gepflegt.

Bleiben wir beim Essen: Ein Hauptkritikpunkt sind die vegetarischen Fleischersatzprodukte. Die Kinder wünschen sich «mehr Essen für Kinder» wie Pizza, Pommes oder Hot Dogs. Wie lässt sich dieses Dilemma zwischen Kinderwünschen und gesunder Ernährung lösen?

Beim Menüplan sind wir an die Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung gebunden. Zudem besitzen viele Standorte die Zertifizierung von Fourchette verte, welche sich für eine nachhaltige und ausgewogene Ernährung einsetzt. Diese Vorgaben kollidieren teilweise mit den Essenswünschen der Kinder. Natürlich dürfen Kinder auch Pommes frites, eine Pizza oder eine Torte essen, wenn sich ein Kind das beispielsweise zum Geburtstag wünscht. Ansonsten haben wir aber in den Tagesstrukturen einen klaren pädagogischen Auftrag, die Kinder gesund und nachhaltig zu ernähren und ihnen zu zeigen, dass es auch gute Alternativen zu Döner oder Hot Dogs gibt. Bei der Durchsetzung der Regeln, die ja auch bei den Znüniboxen gelten, ist ganz entscheidend, dass sie von den Tagesstruktur-Mitarbeitenden mit Überzeugung gegenüber den Kindern mitgetragen werden.  

Und wie wollen Sie die Tagesstrukturen in Basel-Stadt nun konkret weiterentwickeln? Was sind die nächsten Schritte?

Die Resultate und Erkenntnisse der Untersuchung der PH FHNW haben wir im vergangenen Jahr bereits in einer Klausur allen Schul- und Tagesstrukturleitungen der Primarstufe zugänglich gemacht und mit ihnen thematisiert. Auf dieser Basis sollen sie die Tagesstrukturen an den einzelnen Standorten vor Ort nun gezielt weiterentwickeln können. Die Studie hat uns darin bestätigt, dass wir in Bezug auf die Tagesstrukturen in Basel-Stadt heute grundsätzlich auf einem guten Weg sind. Jetzt gilt es an den einzelnen Standorten vor Ort die nötigen Feinjustierungen vorzunehmen – nicht zuletzt bei den Themen Raumnutzung und Raumgestaltung sowie Partizipation der Kinder. Dabei wäre es gut, die Schul- und Tagesstrukturleitungen würden die Kinder unbedingt als Expertinnen und Experten nutzen und sie bei den verschiedensten Fragestellungen zu Beteiligten machen. Interview: Valentin Kressler und Peter Wittwer

Claudia Magos

vks. Claudia Magos (61) ist Leiterin der Fachstelle Tagesstrukturen im Bereich Volksschulen. Seit 2006 ist sie bereits in verschiedenen Funktionen im Erziehungsdepartement (ED) des Kantons Basel-Stadt für die Tagesstrukturen zuständig, seit 2011 in der Leitung der Fachstelle. Zuvor war sie als Gemeindeverwalterin der Gemeinde Hersberg im Kanton Basel-Landschaft tätig. Ausserdem hat sie vor ihrem Wechsel ins ED zwei Restaurants in Allschwil und in Münchenstein geführt. Sie ist Mutter von drei erwachsenen Kindern.

200 Kinder befragt

vks. Um die Qualität der Tagesstrukturen an den Basler Schulen zu ermitteln und verbessern, hat die Volksschulleitung des Erziehungsdepartementes bei der PH FHNW die Untersuchung «Qualität der Tagesstrukturen und Lerngelegenheiten in den Tagesstrukturen aus Sicht der Kinder» in Auftrag gegeben. Speziell an dieser Untersuchung ist, dass «nur» Kinder befragt wurden. Durchgeführt wurde die Studie von Mitarbeitenden des Instituts Forschung und Entwicklung in Windisch. In Gruppengesprächen inklusive Fotorundgängen wurden insgesamt rund 200 Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren (99 Jungen und 95 Mädchen) an neun Tagesstrukturstandorten der Primarschule befragt. Die Erfassung der Qualität der Tagesstrukturen aus Kindersicht, der zentralen Anspruchsgruppe, ermögliche es, bestehende Qualitätskriterien mit jenen der Kinder zu vergleichen und allenfalls weiterzuentwickeln, heisst es dazu im Bericht der PH FHNW. Für die Tagesstrukturen biete dies eine Entwicklungsperspektive. Gemäss Claudia Magos, Leiterin Fachstelle Tagesstrukturen, war die Untersuchung ursprünglich früher geplant, wegen der Corona-Pandemie musste sie jedoch auf Frühling 2022 verschoben werden.

Fünf Kernaussagen

wit. Zusammengefasst kann man sagen, dass der Bericht der PH FHNW den basel-städtischen Tagesstrukturen ein sehr positives Zeugnis ausstellt. Zumindest die befragten Kinder haben wenig auszusetzen und schätzen die ihnen gebotenen Freiräume und Mitgestaltungsmöglichkeiten. Im Detail liefert der Bericht wertvolle Kritik- und Anhaltspunkte zur Weiterentwicklung, die sich auf folgende fünf Kernbotschaften zusammenfassen lassen:

  • Für das individuelle Wohlbefinden ist es wichtig, eine gute Balance zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen der Kinder zu finden. Neben Zonen, in denen soziale Kontakte und Aktivitäten im Zentrum stehen, braucht es auch Rückzugszonen, in denen Kinder ihre Hausaufgaben machen, lesen oder sich einfach erholen können.
  • Die Kinder schätzen es, in den Tagesstrukturen über die Klasse hinaus Freundschaften knüpfen zu können. Zu Spannungen kommt es selten und wenn, dann am ehesten zwischen jüngeren Kindern und älteren, die sich bereits in einem Ablösungsprozess befinden.
  • Die Tagesstrukturen stellen für die Kinder einen Ort dar, wo sie sich frei und sicher fühlen. Die Befragungen deuten darauf hin, dass sich Kinder an den Standorten wohler fühlen, wo ihnen bei der Auswahl der Aktivitäten und Aufenthaltsorte mehr Wahlfreiheiten gelassen werden.
  • Die Gemeinschaft in den Tagesstrukturen bietet sich als Übungsfeld zur Stärkung von sozialen Kompetenzen an. Die Kinder lernen soziale Verhaltensregeln kennen. Durch die Wahlmöglichkeiten, die ihnen gewährt werden, wird ihre Eigenständigkeit gestärkt. Und in Konfliktsituationen erfahren sie, wie sich diese beispielsweise durch einen Perspektivenwechsel einvernehmlich lösen lassen.
  • Der am häufigsten genannte Kritikpunkt ist die Qualität des Essens. Beklagt wird, dass die nach gesundheitlichen Kriterien zusammengestellten Menüs nicht den Geschmack von Kindern treffen. Hier gilt es Kompromisse zu finden, indem den Kindern auch hier mehr Freiheiten bei der Wahl des Zeitpunktes des Essens eingeräumt werden und sie sich von einem Buffet selbst das schöpfen dürfen, was sie mögen.
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